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Chopinesque Choros – Villa-Lobos’ 5. Klavierkonzert

Chopinesque Choros – Villa-Lobos’ 5. Klavierkonzert

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In “The Almonac“ stellt Henrik Almon, Library Manager bei Ricordi Berlin, hörenswerte Werke aus dem schier unerschöpflichen Repertoire der Verlagsgruppe vor, die bislang auf den Spielplänen der großen Bühnen und Orchester eher seltener vorkommen.

Während der Arbeit in der deutschen Dependance des altehrwürdigen Ricordi Verlages, welche sich als unauffälliges Einsprengsel im hippen Berliner Universal Music Hauptquartier an der Stralauer Allee befindet, kann es durchaus vorkommen, gegen das plötzliche Gefühl ankämpfen zu müssen, sich zur falschen Zeit am falschen Ort zu befinden.

Fällt der Blick durch die gläsernen Kuben der endlosen Flurschluchten, so verschmelzen Plakate von Billie Eilish, Ariana Grande oder Rammstein, große Flachbildschirme, Kaffee-Vollautomaten sowie trendige Grünpflanzen neben als Raumteilern fungierenden drehbaren Spiegelwänden unter spacigen Deckenleuchten zu einem flirrenden Mosaik gängiger Topoi modischer Arbeitswelten des 21. Jahrhunderts. Nebenan werden ambitionierte Hip-Hop-Acts gesigned und gegenüber fleißig Songs gepitched und ich, ich sitze über dem latent zerknitterten Druck einer Din-A2-Partitur aus den 1970ern von einem Werk aus dem Jahre 1954 und bewundere die Kombination von fluffiger Notenhandschrift über einer dezent verblassten Notenpapier-Kopiervorlage.  



Das Werk, mit welchem ich mich gerade beschäftige, ist das fünfte Klavierkonzert von Heitor Villa-Lobos. Aus dem Hinweis auf die Nummer 5 wird ersichtlich, dass Villa-Lobos mindestens noch vier weitere Klavierkonzerte geschrieben hat, eine Tatsache, die hierzulande nicht unbedingt als bekannt vorauszusetzen ist, wenn ich mir die bei uns angelaufene Aufführungshistorie seiner Klavierkonzerte anschaue. Schade eigentlich, da doch jedes einzelne von ihnen vielfältige musikalische Facetten birgt – und das bei einer relativ kurzen Aufführungsdauer von im Schnitt eher 20 als der mehr üblichen 30 Minuten.

Aber kommen wir zurück auf das fünfte Klavierkonzert. Von diesem gibt es eine wundervolle Audio-Aufnahme, vom Komponisten selbst dirigiert und von der Pianistin Felicja Blumental, der Widmungsträgerin dieses Konzertes, eingespielt. Man muss dazu vielleicht anmerken, dass ich eine Vorliebe für ausgesprochen „historische“ Aufnahmen habe. Vor allem für solche in, vorsichtig ausgedrückt, suboptimaler Tonqualität. Es rauscht, es knackt, vielleicht ist die Tonspur sogar nur Mono und ganz vielleicht gibt es sogar an einigen Stellen falsch gespielte Noten – alles kein Problem, sondern vielmehr edler Authentizitätsbeweis!



Das Villa-Lobos-Dirigat des eigenen Klavierkonzerts legt also Zeugnis ab, von der Epoche, in welcher diese Musik geschrieben wurde. Wenn Felicja Blumental nach der Orchesterintroduktion ihre ersten Akkordanschläge des fünften Klavierkonzertes von Villa-Lobos intoniert, fällt es mir also aufgrund der doch sehr „historischen“ Tonqualität dieser Aufnahme ganz besonders leicht, mich der Illusion hinzugeben, Einblick in eine vergangene Epoche zu erhalten. Vielleicht begünstigt in diesem konkreten Fall meine Vorliebe für historische Aufnahmen allerdings auch nur, was die Musik ohnehin sagt. Das Schöne speziell an diesem Werk scheint mir nämlich, dass diese Illusion bereits im musikalischen Verlauf der Komposition enthalten zu sein scheint. Die kurze Orchesterintroduktion des ersten Satzes wirkt wie ein dramatisches Aufbäumen gegen den melancholischen Strudel der vergehenden Zeit, der einen tiefer und tiefer hineinzieht. Wenn sich die Streicher zunächst energisch zupackend hinaufquälen, ziehen einen gleich darauf die schweren Bläser-Tutti wieder tiefer hinab, das eigentlich forsch eingeschlagene Tempo wird stetig und unerbittlich ausgebremst bis man vollends eingefangen ist und schließlich in dem Moment, wenn sich der Vorhang öffnet und das Klavier einsetzt, einsieht, dass man angekommen ist. Aber wo ist man nun eigentlich angekommen? Die vergangene Epoche, die sich mir auftut, scheint mir nicht hundertprozentig das Wien der 1950er Jahre zu sein, wo diese Aufnahme entstanden ist.

Vielleicht umweht die Kombination dieses Werks und dieser Aufnahme auch ein wenig der Geist Frédéric Chopins: das erste Thema des Klaviers mutet hoch-romantisch an und die 1908 in Warschau geborene Felicja Blumental gilt immer noch als eine der wichtigsten InterpretInnen des Werks dieses Komponisten. So spricht aus ihren Phrasierungen und Rubati des Klavierparts von Villa-Lobos Klavierkonzert vielleicht auch vieles von der spezifischen Klavierschultradition, in die sie sich als Absolventin des Warschauer Konservatoriums einreiht.



Oder ist es vielleicht doch ein französischer esprit, der aus diesem Klavierkonzert zu mir spricht? Wirkte Chopin nicht maßgeblich in Paris und feierte nicht auch Villa-Lobos dort seinen internationalen Durchbruch? Höre ich zwischen dem Rauschen und Knacken der digitalisierten Schallplatte in meiner Spotify-Playlist vielleicht eine Mélange unterschiedlichster Einflüsse, die durch den Schmelztiegel der Begeisterung für die französische Kunstmetropole verbunden werden?

Bereits beim zweiten Satz des Klavierkonzertes passt dieses Bild jedoch auch wieder nicht. Eine unglaublich tragische Melodie über diatonisch absteigenden Basslinien zieht sich durch den Satz. Villa-Lobos nimmt hier offenbar Bezug auf Elemente der Modinha, einer brasilianischen Liedform die im 18. Jahrhunderts im Umfeld von Rio de Janeiro verbreitet war. Bei Villa-Lobos spielt der Bezug auf die traditionelle Musik Brasiliens fast immer eine wichtige Rolle, nicht zuletzt durch seine musikalische Sozialisation in den improvisierenden Choro-Musikgruppen, die in Rio de Janeiro zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden.

Rio de Janeiro bleibt dann auch die tatsächliche geographische Verbindung zwischen Felicja Blumental und Villa-Lobos, flüchtete die Pianistin mit ihrer Familie doch vor dem Nationalsozialismus im zweiten Weltkrieg hierhin.

Bei Villa-Lobos bleibt also alles im Ungewissen. Ich fühle mich beim knisternden Erklingen seines fünften Klavierkonzertes irgendwie musikalisch heimgekehrt – und schwebe doch in einem diffusen nebulösen Raum der über zweihundert Jahre und zwei Kontinente umspannt.



Villa-Lobos ist für mich sowieso ein postmoderner Komponist par excellence, fungiert er doch als Paradebeispiel für die sehr musikalische Symbiose unterschiedlicher musikalischer Traditionen und Stilrichtungen. Neben einer unfassbar hoch erscheinenden Anzahl verschiedenster und vielfältigster Komposition für diverse Besetzungen und Anlässe erschaffen, werkelte Villa-Lobos quasi nebenbei an einem Gesamtkunstwerk, was ihn selbst als Kunstfigur miteinschloss. Mit dem unbedingten Willen, innerhalb der fortschrittsgläubigen und entwicklungswütigen Pariser Kunstwelt der 1920er Jahre zu Ruhm zu gelangen, platzierte er geschickt Fake News zu seiner Person und seinen Kompositionen und erschuf so das mythenumrankte Bild des genialischen tropischen Komponisten aus dem Urwald. Ein Bild, welches sich nicht nur im nach Exotismen gierenden Paris der 1920er Jahre bewährte, sondern teilweise bis heute Bestand hat – auch wenn sich musikalisch dann meist doch ganz andere Parameter auftun.

Zurück in die Gegenwart: Während die Beats weiterhin durch unseren Büro-Flur wabern, ziehen plötzlich die Pop-Kollegen auf dem Weg zum Kaffeeautomaten an meinem Büro vorbei. Perfektes Timing, denke ich, lasse die Partitur links liegen und schließe mich schnell an. In der Küche stoßen wir schelmisch mit Espresso auf Villa-Lobos und den gerade frisch gesignten Rapper an und ich erfreue mich an der Postmoderne und daran, vielleicht ja doch zu der richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Das Orchestermaterial von Villa-Lobos fünftem Klavierkonzert ist trotz seiner Semi-Handschriftlichkeit sehr gut lesbar und übersichtlich gestaltet.


Concerto pour piano et orchestre n° 5

pf - 3.3.3.3 - 4.2.3.1 - timp.perc - hp - str (divisées)

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Über den Autor

Henrik Almon ist seit 2013 für die Leihabteilung von Ricordi Berlin zuständig. Auf der Suche nach dem richtigen Notenmaterial wühlt er sich seitdem immer wieder durch die labyrinthischen Verästelungen zweihundertjähriger Verlagsgeschichte, quer durch Europa verteilte Notenarchive, analoge und digitale Datenbanken sowie kryptische Mitteilungen über versandte Paketzustellungen.

Vor seinem Leben bei Ricordi hat Henrik Almon rechtschaffen eine kaufmännische Ausbildung absolviert, bevor er sich in die akademischen Tiefen der Musik-, Medien und Literaturwissenschaft begab. Das Studium führte ihn von Weimar und Jena über Paris nach Brasilien, wo er einige Zeit als Klavierlehrer arbeitete. Anhaltende Begeisterung für brasilianische Komponisten mündete in seiner 2018 abgeschlossenen Dissertation zum Thema „Diskurse über Kunstmusik in Brasilien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Außerhalb von Ricordi spielt er nach wie vor inbrünstig Geige in einem der zahlreichen Berliner Uni-Orchester.


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Photos: Durand Salabert (Villa-Lobos), Laurence Chaperon/UMG (Universal Music building), Marie-Louise James (The Almonac)